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Projektbeschreibung

Bio & Kontakt

Der Ursprung der Arbeit liegt in meiner Kindheit, als ich während mehrerer Sommer Zeit in einem itaienischen Urlaubsort an der nördlichen Adria verbrachte. Durch einen Zufall entdeckte ich diesen Ort nach vielen Jahren im Winter wieder. Dabei stellten sich die Spaziergänge durch diese menschenleere, ruhende Kulisse als faszinierendes Experimentierfeld über das Gedächtnis und Erinnerung heraus.


Ich beobachtete, wie ein bestimmtes Objekt oder Material, wie ein Balkongeländer oder die Struktur einer Palme, ohne eigenes Zutun einen Zugang zu einem Erinnerungsbild öffnet, zu dem ich bewusst keinen Zugang mehr hatte. Danach liegt es an mir, in einer Art kreativen Akt, die Zeit um diese Moment mit meiner Vernunft widerherzustellen.

Ich besuchte den Ort mehrmals wieder, immer in der herbstlich oder winterlichen „Off Saison“, und begann mit den Gedanken meiner Beobachtung des Erinnerns im Hinterkopf zu fotografieren, vllt. um diese Beobachtungen einmal einen Ausdruck zu geben.


Die Verbindung von physischem Gegenstand und Gedächtnis durch Zeit mittles der Fotografie darzustellen schien einige Vorteile zu bieten: Ein visueller Darstellungsmodus mit einer einzigartigen Nähe zur physischen Wirklichkeit und vor allem die Eigenschaft, eine gewisses Bewusstsein über die mit ihr verbundenen Zeitlichkeit zu vermitteln.




Um den Bogen hin zum Entstehungsprozess der Bilder zu spannen ist es interessant, die Begriffe Gedächtnis - Zeit - Fotografie miteinander in Verbindung zu setzen.


Bei der Beschäftigung mit dem Thema Erinnerung ist anfangs die Unabhängigkeit des Gedächtnisses, als eine Art geistiger Apparat, hervorzuheben. Das Bewusstsein ist dem Gedächtnis nicht souverän, da es keinen Einfluss auf die Arbeit des Gedächtnisses ausüben kann. Die meisten Erinnerungen darin sind vom Bewusstsein selbst nicht abrufbar. Der Zeit- und Gedächtnis-Philosoph Henri Bergson sah das Gedächtnis daher gar als eine eigene Spähre, er ontologisierte das Gedächtnis, ließ ihm einen eigenen Seinsstatus zukommen.


Erfahrbar ist diese Unabhängigkeit bei der geheimnisvollsten Art der Erinnerung, der unwillkürlichen Erinnerung, über die Marcel Proust immer wieder in seinem Hauptwerk auf der Suche nach der Verlorenen Zeit schrieb.


Ohne eigenes zu tun, unerwartet, oft in Momenten von Zerstreutheit oder Geistesabwesenheit wird dabei durch einen Sinneseindruck wie durch einen Geruch oder den Anblick eines Gegenstandes blitzartig der Zugang zu einem Erinnerungsbild, eines einzelnen Momentes der Vergangenheit geöffnet. Diese Form der Erinnerung zeigt am stärksten das Paradox, sich gleichzeitig in der Gegenwart, und zur selben Zeit in der Vergangenheit zu befinden.


Umso näher ich mich mit dem Begriff Zeit auseinandersetzte, umso unklarer wurde er mir. Die australische Philosophin Elisabeth Grosz führte genau diesen Umstand schön aus: „Die Zeit hat eine Qualität der Ungreifbarkeit, ein flüchtiges Halbleben. .. Sie hat eine Vergänglichkeit, eine flüchtige oder schillernde, höchst prekäre „Identität“, die Konkretisierung, Indikation oder direkte Repräsentation widersteht. Die Zeit ist immaterieller als jede andere „Sache, die weniger begrifflich oder physisch erfasst werden kann.“


Interessant ist es, die Arbeit mittels der Zeit-Definition des Zeitphilosophen Henri Bergsons zu betrachten. Dieser revolutionierte im 19. Jahrhundert die Vorstellung von Zeit, in dem er die damals weit verbreiteten Ansicht kritisierte, Zeit ausschließlich als ein pausenloses Nacheinander von Zeitpunkten zu sehen, Zeit nur aus einer messbaren Perspektive zu begreifen. Damit wird seiner Ansicht nach die Möglichkeit der Dauer entzogen, womit aber nicht einfach die zeitliche Ausdehnung gemeint ist, sondern ein Zustand, in dem die vergehenden Punkte des Zeitflusses im Gedächtnis zu einer Kontinuität und Simultanität verschmelzen.

Erst durch diese dem Bewusstsein zugeordnete Dauer können wir die einzelnen Wahrnehmungsbilder aus ihrer Starrheit lösen, das Vorher in ein Nachher verlängern und damit mit unserem Verstand erst Geschichte hervorbringen.


Nach Bergson teilt sich demnach die Zeit immer in zwei Momente, der vorüberziehenden Gegenwart („aktuelles Bild“), und der bewahrenden Vergangenheit („virtuelles Bild“). Die Zeit lässt die Gegenwart vorübergehen und bewahrt gleichzeitig die Vergangenheit in sich auf - was dem Eintritt in die Dauer entspricht.

Bergson macht das Verhältnis dieser beiden Bilder - dem aktuellen und virtuellen - in der Beschreibung eines Erinnerungsprozesses anschaulich: Zuerst begibt man sich ganz allgemein in die Vergangenheit, dringt weiter in eine bestimmte Region vor, dort probiert und tastet man sich wie beim Einstellen der Schärfe eines Fotoapparates heran. Dabei ist die Erinnerung noch virtuell, die Suche dauert, „nach und nach erscheint sie wie ein dichter werdender Nebel, vom virtuellen geht sie in den aktuellen Zustand über“. Je schärfer die Umrisse, desto mehr neigt die Erinnerung die Wahrnehmung nachzuahmen.


In der Erinnerung koexistieren die unterschiedlichen Zeitbilder gleichberechtigt und simultan nebeneinander, ohne aufeinander zu Folgen. Für Bergson befindet sich im Gedächtnis die Zeit in einem reinen Zustand, man kann auch sagen, Erinnerung findet in der Dauer statt.



Bevor ich Zeit mit Fotografie in Verbindung setze, gehe ich noch auf ein wesentliches Merkmal des Mediums ein: Mit der Fotografie wird - trotz digitaler (und analoger) Manipulationsmöglichkeiten - nach wie vor ein visueller Darstellungsmodus assoziiert, der eine einzigartige Nähe zur Wirklichkeit aufweist. In der Medientheorie wird ihr indexikalischer Charakter hervorgehoben, eine direkte Spur in Form einer physischen Verbindung verweist vom Zeichen auf den repräsentierten Gegenstand. In erster Linie wird die Fotografie damit als eine Ikone des Realen gesehen, sie bestätigt und gibt Gewissheit über etwas vergangenes Reales.


Der Filmtheoretiker Andre Bazin sieht in der Fotografie etwa mehr Ähnlichkeiten mit manchen Guss- und Formtechniken als mit der Malerei. Oder in metaphysischen Begriffen ausgedrückt (die bei fototheoretischen Schriften überraschend oft Verwendung finden), liegt in der Fotografie statt der Imitation die Emanation des Referenten zu Grunde. Emanatio heißt so viel wie ausfließen oder das Hervorgehen von etwas aus seinem Ursprung.



Interessant ist Deleuze's kritische Haltung dem Medium gegenüber, genauer gesagt beklagt er sich genau über diese zugeschriebene einzigartige Nähe zur Realität, obwohl ja den abgebildeten Gegenständen - im Gegensatz zum (Kino)Film - die Dauer entzogen wird. Daraus folgt eine Trennung von Realität und Zeit. Grundsätzlich bildet die Fotografie das Werden nicht ab, sie verharrt im Sein. Sämtliche Zustände befinden sich aber immer schon im Werden, so Deleuze's Argument gegen die zugeschriebene Realitätsnähe der Fotografie.

So gerät bei einer herkömmlichen, rein der Dokumentation abzielenden Fotografie, der Aktualisierungs- und Werdensprozess leicht in Vergessenheit. Die Folge ist, dass bei der Betrachtung solcher Fotografien die Fixierung auf einen vergangenen Moment alleine haftet. Sie lässt laut Deleuze keine Frage nach Veränderung, nach der Zeit dazwischen zu, wobei diese Fixierung auf vergangene Momente bei Fotografien mancher KünstlerInnen etwa in der re-photography bewusst gelöst werden.


Hier schließe ich nun an meine Arbeit an, wobei dazu der Vorgang um den Herstellungsprozess wesentlich ist: Nachdem ich in den Herbst- und Wintermonaten die Fotografien aufgenommen habe, platzierte ich während der Sommermonate Ausdrucke in eigens dafür angefertigten Holzkonstruktionen im Freien, sodass sie von direktem Sonnenlicht beschienen wurden. In diesem von extremer Langsamkeit geprägten Prozess, der teilweise bis zu 5 Monate dauerte, bleichten die Fotografien langsam aus und wurden gleichzeitig wieder mit einer eigentümlichen Ausstrahlung aufgeladen. Bildausschnitte wurden zuvor mit Maskierungen abgedeckt und blieben vom Verblassungsprozess unverändert, sodass sie wie Zeitfenster über der bleich-rosa Szenerie zu schweben scheinen. Der italienische Titel dieser Abschlussarbeit scottatura bedeutet so viel wie Sonnenbrand und weist u.a. auf den Herstellungsprozess der Bilder hin. Durch diesen Prozess werden unterschiedliche Formen der Zeit - Moment und Dauer -in den Bildern sichtbar und erfahrbar gemacht.


Die Betrachtung der Bilder geben das Gefühl, dass die Zeit in ihnen steht und gleichzeitig weitergeht.